* 23 *

23. Geisterseher

 

Etheldredda

Feuerspei schlief, und Snorri hatte jetzt dort, wo eben noch ein volles Fass Pökelfisch gestanden hatte, ein freies Plätzchen in ihrem vollen Laderaum. Die Alfrun war an einer großen Weide vertäut, die das Flussufer auf der Ackerlandeseite überragte, denn die Skipperin hielt es für zu gefährlich, die Fahrt mit einem unberechenbaren Drachen an Bord fortzusetzen. Snorri und Jenna saßen in der Plicht im Heck und versuchten, nicht auf Feuerspeis Schnarchen und Röcheln zu hören. Wolfsjunge, der nach dem Flug mit dem Drachen immer noch ein flaues Gefühl im Magen hatte, erkundete die Apfelgärten am Ufer.

Snorri hätte nie gedacht, dass sie der Prinzessin ein zweites Mal begegnen würde, geschweige denn, dass sie mit einem Drachen auf ihrem Boot landen würde. Sie war etwas eingeschüchtert. Sie hatte Jenna und Wolfsjunge ein Willkommensfrühstück aus Brot, Kuchen, Salzheringen und Äpfeln serviert, das die beiden gierig verschlungen hatten. Wolfsjunge bedauerte, dass er Feuerspei den ganzen Speck gegeben hatte, zumal der Appetit des Drachens damit nicht annähernd gestillt gewesen war und Snorri noch ein ganzes Fass Pökelfisch an ihn hatte verfüttern müssen.

»Es tut mir wirklich leid, Snorri«, sagte Jenna noch einmal, nachdem Wolfsjunge an Land gegangen war. »Wir waren auf der Suche nach Septimus, und Feuerspei hat einfach zur Landung angesetzt. Ich habe ihn nicht davon abgehalten, weil ich dachte, Septimus sei hier ... was ja leider nicht stimmt.« Jenna verfiel in Schweigen. Konnte es sein, dass der Suchzauber bei Feuerspei nicht funktionierte? Er war noch so jung und unbedacht. Wenn er sich schon vom Duft gebratenen Specks ablenken ließ, was konnte ihn sonst noch vom richtigen Weg abbringen?

»Dein Bruder Septimus«, fragte Snorri. »Ist... ist er tatsächlich in einen Spiegel gefallen?«

Jenna nickte.

»Dann ... findest du ihn doch bestimmt im Spital.«

Jenna schüttelte den Kopf. »Es war kein normaler Spiegel, verstehst du?«

»Ach so ...«, sagte Snorri. »Ein alter Spiegel. Jetzt verstehe ich.«

»Tatsächlich?«, fragte Jenna überrascht.

»Meine Großmutter hatte so einen. Aber wir durften ihn nie anfassen. Ihre Schwester Ells ist hineingefallen, als sie klein war.«

»Und?« Jenna wagte kaum zu fragen. »Hat man sie wieder gefunden?«

»Nein«, antwortete Snorri.

Jenna verstummte. Mit einem Mal sprang Snorri auf, stürzte zur Reling und spähte flussaufwärts. Jenna folgte ihrem Blick, konnte aber nichts entdecken. Der Fluss lag ruhig und verlassen da. Der Nieselregen hatte schon vor geraumer Zeit aufgehört, und im glatten Wasser spiegelten sich die dicken grauen Wolken, die am Himmel hingen. Nichts kräuselte die Oberfläche des Flusses, nicht einmal ein abenteuerlustiger Fisch, der nach einer Fliege schnappte.

Snorri zog ihr Geistermonokel aus einer Tasche ihres Kittels und klemmte es ins linke Auge. Sie murmelte etwas vor sich hin.

»Stimmt was nicht?«, fragte Jenna.

»Das Boot gefällt mir nicht«, flüsterte Snorri.

»Aber es ist doch ein schönes Boot«, erwiderte Jenna. »Mir gefällt es, besonders deine kleine Kajüte. Die ist sehr gemütlich.«

»Nein, nicht das hier«, erklärte Snorri. »Das Boot da drüben.« Sie nahm das Monokel ab und deutete stromaufwärts. Jenna folgte wieder ihrem Blick, und jetzt bemerkte sie, dass Snorris Augen auf etwas geheftet waren, das langsam den Fluss herunterkam.

Snorri blickte zu Jenna herüber. »Ach so, du kannst das Geisterschiff wohl nicht sehen?«

Jenna schüttelte den Kopf.

»Es kommt auf uns zu«, flüsterte Snorri.

Plötzlich fühlte sich die Luft kühler an, und der Fluss bekam etwas Bedrohliches. »Was kommt auf uns zu?«, fragte Jenna.

Snorri antwortete nicht. Sie spähte durch ihr Monokel, ganz in den Anblick von Königin Etheldreddas Königsbarke vertieft. Die Barke war dicht am anderen Ufer durch die Biegung gefahren und kam jetzt quer über den Fluss auf die Alfrun zu. Snorri zitterte.

»Was ist? Was siehst du?«, flüsterte Jenna.

»Ich sehe eine Barke. Sie hat einen hohen Bug und ist nach uralter Bauweise gebaut. Ich sehe vier Geisterruder auf der Backbordseite und vier auf der Steuerbordseite. Sie bewegen sich, aber sie wühlen das Wasser nicht auf. Ich sehe einen königlichen roten Baldachin auf vier goldenen Pfosten, und ich sehe die Königin darunter sitzen.«

»Trägt ... trägt die Königin eine hohe Halskrause, und hat sie Zöpfe, die wie Schnecken über ihre Ohren gelegt sind?«, flüsterte Jenna, der ein schrecklicher Verdacht kam. »Macht sie ein Gesicht, als ob sie gerade etwas Ekliges gerochen hätte?«

Snorri sah wieder zu Jenna herüber und lächelte. Es war das erste Mal, dass Jenna sie lächeln sah.

»Dann bist du also auch eine Geisterseherin. Ich habe mich so nach einer Schwester im Geiste gesehnt. Willkommen!« Snorri schlang die Arme um Jenna, doch die wollte auf keinen Fall von Königin Etheldredda entdeckt werden, entwand sich ihr und flüchtete in die Kajüte.

Snorri folgte ihr unter Deck. »Es tut mir leid«, sagte sie, »wenn ich dich beleidigt habe.«

Jenna saß auf der Treppe, ganz weiß im Gesicht, die Arme um die Knie geschlungen. »Du ... du hast mich nicht beleidigt«, flüsterte sie. »Ich will nur nicht, dass die Königin mich sieht. Sie war es, die mich dazu gebracht hat, meinem Bruder den Spiegel zu zeigen. Sie ist ein Ekel, ein richtiges Ekel.«

»Aha«, flüsterte Snorri, nicht im Geringsten überrascht, wenn sie an den Schauer dachte, der ihr über den Rücken gelaufen war, als sie die Königsbarke das erste Mal gesehen hatte. »Du bleibst hier, Jenna. Ich gehe hinauf und behalte die Königin im Auge. Ich werde dir berichten, was sie tut, denn ich fürchte, sie führt Böses im Schilde und will dir deshalb nicht erscheinen. Ob sie deinen Bruder als Gefangenen an Bord hat?«

»Sepp«, sagte Jenna. »Auf einem Geisterschiff? Aber das würde ja bedeuten, dass er ein Geist ist...«

»Nein, nicht unbedingt. Man kann von einem Geist entführt werden und trotzdem weiterleben. Das ist meinem Onkel Ernold passiert.« Damit verschwand Snorri nach oben, und Jenna überlegte, dass Snorris Familie wohl etwas zu Unfällen neigte, was ihre Beziehung zur Geisterwelt anging.

Die Königsbarke näherte sich der Alfrun, und Snorri sah, dass sie früher einmal sehr schön gewesen sein musste. Sie war lang und schmal und mit verschlungenen Mustern in Gold und Silber bemalt. Reich verzierte goldene Pfosten stützten einen prächtigen roten Baldachin, der einst die Aufgabe gehabt hatte, die Königin und ihre auf den langen Polstersitzen im Heck sich rekelnden Höflinge vor Sonne und Regen zu schützen. Jetzt freilich saß Etheldredda alleine da, so wie sie es schon zu ihren Lebzeiten meist getan hatte, denn ihre Höflinge hatten sich mit allen möglichen Ausreden um eine Fahrt auf der Barke gedrückt, auf der es kein Entrinnen vor der Königin gab. Unter Deck saßen acht Geisterruderer auf schmalen Holzbänken und bewegten ihre körperlosen Ruder vor und zurück, vor und zurück, ohne dass das Flusswasser aufgewühlt wurde.

Als die Königsbarke in Richtung Alfrun schwenkte, steckte Snorri das Monokel weg und fing an, das Frühstückgeschirr zu spülen. Sie wollte der Königin nicht zeigen, dass sie eine Geisterseherin war, und war davon überzeugt, dass sie für Jenna nur deshalb unsichtbar war, weil sie ihr nicht erscheinen wollte. Königin Etheldredda erhob sich von ihren Polstern, kam an den Rand der Barke und blickte übers Wasser zu Snorri hinüber. Sie rümpfte missbilligend die Nase. Eine Dienstmagd, kein Zweifel. Ihr stechender Blick glitt über die Frühstücksreste, die das Mädchen langsam wegräumte – empörend langsam. Wie faul die Dienstboten heutzutage waren! Das würde sich ändern, wenn sie erst wieder Königin war. Aber irgendetwas an der Dienstmagd kam ihr merkwürdig vor. Die Augen des Mädchens ruckten hin und her wie bei einer Eidechse und vermieden es, irgendwohin zu sehen. Sehr verdächtig. Ohne Zweifel würde ihr Dienstherr eines Nachts aufwachen und feststellen, dass die gesamte Fracht vor seiner Nase verkauft worden war. Das würde ihm ganz recht geschehen.

Mit einem grimmigen Lächeln auf den Lippen steuerte Königin Etheldredda weiter auf die Alfrun zu und suchte dabei das restliche Boot mit den Augen nach Jenna ab. Eigentlich war sie auf dem Weg in die Marram-Marschen. Doch als sie um die Biegung fuhr und die Alfrun erblickte, die am Ufer festgemacht war, hatte sie plötzlich das deutliche Gefühl gehabt, dass ihre treulose Enkelin in der Nähe sei. Sie konnte sich das nicht erklären, denn soweit sie wusste, weilte das Mädchen in der Hüterhütte. Jedenfalls hatten das die beiden lästigen Außergewöhnlichen Zauberer gesagt, die sie durch die Zimmertür belauscht hatte. Und Königin Etheldredda schwor auf Informationen, die man durch heimliches Lauschen gewann. Zu ihren Lebzeiten hatte sie diese Kunst so vervollkommnet, dass sie, was ihr jemand ins Gesicht sagte, nur glaubte, wenn sie es auch heimlich erlauscht hatte.

Als die Königsbarke längsseits der Alfrun ging, wurde Königin Etheldreddas Gefühl, dass Jenna an Bord sei, sogar noch stärker, doch sie konnte keine Spur von ihr entdecken. Verwundert musterte sie das Boot. Es war ein typisches Nordhändlerboot, weiter nichts: Es führte die Flagge der Hanse und war trotz der schlampigen Dienstmagd in einem tadellosen und sehr gepflegten Zustand. Alles war ruhig und friedlich und so, wie es sein sollte. Die Taue waren sauber aufgeschossen, das Segel war fachmännisch eingerollt und – und auf dem Deck lag ein Drache.

Septimus Heap 03 - Physic
titlepage.xhtml
Septimus Heap 03 Physic 01_split_000.html
Septimus Heap 03 Physic 01_split_001.html
Septimus Heap 03 Physic 01_split_002.html
Septimus Heap 03 Physic 01_split_003.html
Septimus Heap 03 Physic 01_split_004.html
Septimus Heap 03 Physic 01_split_005.html
Septimus Heap 03 Physic 01_split_006.html
Septimus Heap 03 Physic 01_split_007.html
Septimus Heap 03 Physic 01_split_008.html
Septimus Heap 03 Physic 01_split_009.html
Septimus Heap 03 Physic 01_split_010.html
Septimus Heap 03 Physic 01_split_011.html
Septimus Heap 03 Physic 01_split_012.html
Septimus Heap 03 Physic 01_split_013.html
Septimus Heap 03 Physic 01_split_014.html
Septimus Heap 03 Physic 01_split_015.html
Septimus Heap 03 Physic 01_split_016.html
Septimus Heap 03 Physic 01_split_017.html
Septimus Heap 03 Physic 01_split_018.html
Septimus Heap 03 Physic 01_split_019.html
Septimus Heap 03 Physic 01_split_020.html
Septimus Heap 03 Physic 01_split_021.html
Septimus Heap 03 Physic 01_split_022.html
Septimus Heap 03 Physic 01_split_023.html
Septimus Heap 03 Physic 01_split_024.html
Septimus Heap 03 Physic 01_split_025.html
Septimus Heap 03 Physic 01_split_026.html
Septimus Heap 03 Physic 01_split_027.html
Septimus Heap 03 Physic 01_split_028.html
Septimus Heap 03 Physic 01_split_029.html
Septimus Heap 03 Physic 01_split_030.html
Septimus Heap 03 Physic 01_split_031.html
Septimus Heap 03 Physic 01_split_032.html
Septimus Heap 03 Physic 01_split_033.html
Septimus Heap 03 Physic 01_split_034.html
Septimus Heap 03 Physic 01_split_035.html
Septimus Heap 03 Physic 01_split_036.html
Septimus Heap 03 Physic 01_split_037.html
Septimus Heap 03 Physic 01_split_038.html
Septimus Heap 03 Physic 01_split_039.html
Septimus Heap 03 Physic 01_split_040.html
Septimus Heap 03 Physic 01_split_041.html
Septimus Heap 03 Physic 01_split_042.html
Septimus Heap 03 Physic 01_split_043.html
Septimus Heap 03 Physic 01_split_044.html
Septimus Heap 03 Physic 01_split_045.html
Septimus Heap 03 Physic 01_split_046.html
Septimus Heap 03 Physic 01_split_047.html
Septimus Heap 03 Physic 01_split_048.html
Septimus Heap 03 Physic 01_split_049.html
Septimus Heap 03 Physic 01_split_050.html
Septimus Heap 03 Physic 01_split_051.html
Septimus Heap 03 Physic 01_split_052.html
Septimus Heap 03 Physic 01_split_053.html